Ich habe Giancarlo Lepore kennengelernt als er noch Student war, Schüler Floriano Bodinis an der Kunstakademie in Carrara, dem wichtigsten Zentrum der Marmorverarbeitung in den Apuaner Bergen der Versilia. Hier, wo schon die Etrusker Marmor brachen und bearbeiteten, trafen sich im Laufe des 19.Jahrhunderts Bildhauer der ganzen Welt, angezogen von Marmorwerkstätten und Bronzegießereien, deren Ausstattung und Professionalität anderenorts schwer zu finden ist. Heute ist Lepore Professor für Bildhauerei an der Kunstakademie in Venedig, an dem Lehrstuhl, den vor ihm Künstlerpersönlichkeiten wie Alberto Viani und Arturo Martini innehatten, dem Neugründer der italienischen Skulptur schlechthin, der in seinem Werk alles andere als "lingua morta" zeigt und der in der Bildhauerei spirituelle Essenz auszudrücken vermochte, in einer Formensprache, die der Leichtigkeit und der Absolutheit der Form - befreit und k\'f6rperlos im Raum - gewidmet war.

Zwischen Carrara und Venedig sind circa zwanzig Jahre vergangen. Lepore nutzte diese Zeit zum Studium der Kunstgeschichte und der zeitgenössischen Kunst, für lange Auslandsaufenthalte, vor allem in Deutschland. Er lehrte an Kunstakademien, widmete sich aber weiterhin seiner eigentlichen Arbeit als Bildhauer. Parallell dazu vertiefte er seine Fertigkeiten in verschiedenen grafischen Ausdrucksmitteln wie z.B. dem Holzschnitt und der Zeichnung. Es sind nun mehr als zwanzig Jahre, in denen ich Einblick in Leben und Werk zeitgenössischer Künstler habe, und daher glaube ich sagen zu können, daß zwischen dem Lepore von heute und dem seiner Lehrjahre in Carrara kein großer Persönlichkeitswandel stattgefunden hat. Schon damals wirkte er sehr konzentriert, gewissenhaft und nachdenklich. Sein Handeln hatte das Ziel sachlicher Auseinandersetzung, ohne Zerstreuung oder Ablenkung, ausgenommen die notwendigen gestalterischen Wege und Umwege bei der Arbeit am Objekt. Er war ein junger Mann, dem es wichtig war, sich die Methoden des intellektuellen und plastischen Ausdrucks anzueignen, immer begleitet von dem Bestreben, handwerkliche Techniken und manuelle Fertigkeiten zu lernen, wohlwissend, daß Kunst ein wichtiger Aspekt der Kultur und ein Produkt der Geschichte ist. Man hätte ihn eher als einen Künstler "des Kopfes" als "des Bauches" charakterisiert. Oder, um es deutlicher auszudrücken, als einen Bildhauer mit dem Hang, Dinge zunächst im Kopf abzuklären und seine Handlungen darauf abzustimmen, auch diejenigen, die dem unmittelbaren gestalterischen Ausdruck gewidmet sind. Ich möchte darauf hinweisen - und dies ist mein ganz persönlicher Eindruck - , daß er sich immer einer skulpturalen Form bedient, die von extremer Plastizität lebt und mit den Ausdruckmöglichkeiten des Materials spielt. Ich habe sein Schaffen vor allem aus der Ferne - abgesehen von einigen persönlichen Treffen - verfolgt, besonders nachdem er sich in der kulturell und kunsthistorisch traditionsreichen Region des Montefeltre niedergelassen hat. Hier besitzt er ein Haus inmitten der Natur, umgeben von den Wäldern der Hügel und Berge, die seine momentane Arbeit stark beeinflussen. Trotzdem bin ich überzeugt, daß Giancarlo die Art zu arbeiten, die er als junger Mensch entwickelt hat, beibehalten hat. Auch die Art und Weise, mit seinen Studenten zu arbeiten, wird von dem für ihn typischen Gleichgewicht zwischen Leidenschaft und Kontrolle beeinflußt sein. Er wird Ihnen Beispiele geben von einer Kunst, geprägt vom Geist des Humanismus, sensibel dem Neuen gegenüber und doch der Tradition verpflichtet, Grundlage von Modernität auch in der zeitgenössischen Kunst. Diese wird nicht nur durch die virtuelle Welt der neuen Medien im "globalen Dorf" gekennzeichnet, in dem sich die Spezifica einzelner Kulturen auflösen und - hierin eingeschlossen - die Art zu sein und sich an anderen zu messen.

Die Skulptur, die durch ihre Entstehung immer zu neuen Diskussionen anregt, ist für Lepore der fundamentale Kern seiner persönlichen Identität. Schöpferische Kraft und Bearbeitung des Materials, seine Umwandlung im künstlerischen Prozeß sind nicht voneinander unabhängig zu sehende Momente, sondern müssen sich miteinander verbinden , um sensibel und signifikant die innere Gedankenwelt auszudrücken . In diesem Licht muß Lepores Tendenz gesehen werden, mit einer breiten Palette von Materialien zu arbeiten, von denen jedes einzelne spezifisch andere Bearbeitungstechniken verlangt und in seinen Eigenschaften gekannt werden muß. Die den Materialien Bronze, Marmor, Leder, Terracotta, Holz, Stahl und Papier innewohnenden charakteristischen ästhetischen Eigenschaften müssen herausgearbeitet werden und gleichzeitig dem Gestaltungswillen des Künstlers unterworfen sein. Sie werden zur Steigerung der Ausdrucksmöglichkeiten herangezogen und regen zu neuen Hypothesen bei formalen und ideellen Projekten an. Als Beispiel möchte ich die Formung des Leders nennen, die Lepore erstmalig während seiner Arbeit als Bühnenbildner (1979-84) kennenlernte und die er in der Folgezeit vertieft und perfektioniert hat, um so auch Arbeiten in beachtlicher Größe zu realisieren: volle Figuren, Torsi und anatomische Fragmente, menschliche Figuren, doppeldeutig in ihrer Aussage, weil das Material einerseits Oberfläche, andererseits aber auch Haut im eigentlichen Sinne ist. Die Arbeit mit dem Material Leder sehe ich als fundamental für die bildhauerische Richtung an, die Lepore nach der Ausbildung eingeschlagen hat. Diese selbst dürfte als abgeschlossen betrachtet werden mit einer Bronzeskulptur aus dem Jahr 1982 - vielleicht die erste wirklich reife und in sich abgeschlossene Arbeit unter vielen anderen - die jedoch alle unzweifelhaftes Talent bezeugen. Ein unruhebringendes und problemschaffendes Talent zum Bildhauer, das mehr zum kraftvollen und energischen Modellieren tendiert als zum schnellen Bearbeiten der Oberflächen, mehr zum rauhen und unebenen Gestein als zum glatten und abgeschlossenen Volumen, zur plastischen Form, in deren Ausdruck sich die "Flüchtigkeit" der gegenwärtigen Welt spiegelt. Die von mir angesprochene Skulptur trägt den Titel "In viaggio" und stellt einen jungen Mann dar, der eine über die Schulter gehängte Tasche vor sich herträgt. Es scheint ein Kouros zu sein in Version von "on the road", Figur Ginsbergs. An den Oberschenkeln geschnitten und ohne Arme ist die Figur kopflos, aber nur wenige andere mir bekannte Beispiele der zeitgenössischen italienischen Skulptur sind ihr gleichzusetzen mit ihrem Blick in Richtung Kunsthorizont, ein Blick, den auch kunsthistorische Meisterwerke wie z.B. die Nike von Samothrake haben. Im Nachhinein können wir diese Skulptur ohne übertreibung als Meilenstein am Wege Lepores ansehen, der sich jetzt zu einem breiteren Raum aufweitet. Die nun folgenden Arbeiten zeigen Erfahrungen auf, die während dieses Weges gemacht wurden, zeugen von Aufenthalten zur Vertiefung des Wissens und zur persönlichen Weiterentwicklung, dokumentieren Begegnungen mit anderen die ihm geholfen haben, eigene stilistische Merkmale zu entwickeln. Lepore hat auf dieser seiner "Reise" jedoch nie seinen ursprünglichen Charakter verleugnet. Im Laufe seiner Arbeit hat er die Figur immer mehr von unnötigen Elementen zur Erkennung der menschlichen Figur befreit, sie immer mehr reduziert. Er wandelt sie geradezu zu Reliquien um, die wie zum Abdruck der Passion werden, der sie bei ihrer Entstehung durchdrungen hat. Gleichzeitig hat sich der Geist der Zugehörigkeit zur Geschichte -der klassichen abendländischen Kunst - gesteigert. Dies wird besonders deutlich in den fragmentarischen Figuren, die durch Stahlgerüste gehalten werden, um die verlorene Ganzheit wiederzufinden, in weiblichen und männlichen fragmentarischen Torsi, in Kariatyden und Atlanten, die in voller Materialität gefangen sind. Die Erinnerung an klassische und archäologische Modelle und ihre Kultur sind in einigen der neueren Skulpturen formal weniger deutlich, zeigen sich jedoch weiter in den Titeln, die von der mediteranen Mythologie inspiriert sind. Dies ist der Schwerpunkt der Arbeiten der 90er Jahre. Es sind gelebte und durchlittene Erinnerungen, keine intellektuellen Sehnsüchte wie etwa in der Kunst des "Anachronismus", keine Zitate aus Museen, die lediglich durch leeres Ausführen entstehen.

Der "Archäologe " Lepore hat - immer in "seinem" Mittelmeerraum - Funde ausgegraben, die Werte des Existenzialismus in sich tragen und so zu Interpreten des Alltags werden. Dies wird deutlich in der Erosion des Materials und des plastischen Volumens und man spürt, daß das Wirken Giacomettis und der Informellen des 20.Jhs nicht umsont war. Die expressive Komponente oder - anders ausgedrückt - ein gewisser Brutalismus im Umgang mit dem Material, ist in den letzten Jahren dominant geworden. Lepore arbeitet geradzu panisch und ohne symbolische Absicht, vielmehr spielt er mit Analogien zwischen plastischem Organismus und der Morphologie der Felsen, der Hügel, Bäume und der Landschaften, die sein Haus umgeben, der "Tellus Mater" die jede Manifestation der gestalteten Welt bestimmt. Die plastischen und strukturellen Lösungen in der aktuellen Arbeitsphase, die ich als den Elementen der Natur und ihrem Lebenszyklus gewidmet beschreiben würde, sind zahlreich und auf verschiedene Weise geprägt, je nach Thema und der Typlogie des gewählten Materials und dessen ästhetischen und narritiven Eigenschaften. Die Schroffheit und Kraft des Steins suggerieren einen Kontext der Erdenschwere und Tektonik, sichtbar in der Skulptur "Passagio" (2000), die die Metamorphose von Stein zu Figur und wieder zu Stein zum Thema hat. Die Arbeiten in Terracotta und getriebenem Stahl, zusammengeschweißt und oxidiert, folgen einer aufstrebenen Vertikale, haben unregelmäßige Verläufe, die nach oben wachsen bzw. sich entwickeln. Es handelt sich um extrem "strapazierte" Figuren, die sich dem Licht unterwerfen und nicht dem Einfluß der Elemente ausweichen und die zu erodierten Felsen oder zu verdürrten Baumstämmen zu werden scheinen. Man könnte auch den Blickwinkel ändern und sie als Organismen im Werdegang lesen, die Ihre Ganzheit wiederfinden, im formalen Spiel mit dem Raum. In der Natur werden sie geboren und sterben sie, sind sie nichts anderes, als die Extreme des Seins.

Nicola Micieli, Kunstkritiker - Pisa, April 2001

Carrara Città Laboratorio

Simposio di Scultura

 

Torso, 1984, marmo

 

Casalaboratorio

 

Giocolieri, 1990. cuoio

 

Viaggio, disegno, 1986

In Viaggio, 1982, bronzo

 

Donna nel vento, 1989, bronzo

 

Casalaboratorio, paesaggio

 

Nuvola, 1993, bronzo

 

STHAHLSKULPTUREN

TERRACOTTA

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